Fallen lassen
Helmut Prochart - Das, was nicht ist
Photo: Helmut Prochart

Meine neue Fotoserie „Das, was nicht ist.“ ist eine Auseinandersetzung mit jenen Wünschen, die Menschen durch äußere oder innere Umstände verwehrt geblieben sind. Mich interessiert das, was nicht ist, was nicht sein konnte, was nicht eingetreten ist, was verhindert wurde, was ein unerfüllter Wunsch blieb.

 „Das, was nicht ist“ springt auch bei Brigitte Schwaiger ins Auge, deren autobiographischer Bericht „Fallen lassen“ die Einsamkeit in der Psychiatrie thematisiert.

Die Besucherin, die vor der Schwelle innehält, verkörpert die Ambivalenz, die immer auf beiden Seiten ist. Kommt möglicher Besuch nicht an, verhält es sich komplex:

„Meine Freunde haben mich im Spital nicht besucht. Baumgartner Höhe 1, Pavillon 10, mit dem Bus 48 A bequem zu erreichen, fährt von der Ringstraße, Bellaria, bis vors Tor.

(…)

Es besuchen mich die Freunde nicht, weil ich erstens Freunde nicht verständigt habe von dem Ort, an dem ich bin, weil sie zweitens, seit ich kein Geld mehr habe, nicht mehr meine stolzen Freunde sind, es haben mir nur wenige Menschen ‚von früher‘ mit Geld ausgeholfen, es besuchen mich auch keine Verwandten, ich möchte das gar nicht,

              ich
              bin
              sowieso
              unnütz.

(…)

Freunde besuchen mich nicht, selbstverständlich, weil ich ja seit dem Jahr 1994 ohnehin keine Freunde habe. Kollegen kommen selbstverständlich auch nicht. Wie sollen sie wissen, dass ich in Not bin?“

Brigitte Schwaiger, „FALLEN LASSEN“, S. 19 – 21, Wien, Czernin Verlag, 2006

In meiner fotografischen Darstellung hält die Besucherin – die es laut Brigitte Schwaiger nie gab – vor dem psychiatrischen Gebäude inne, als würde sie von einer unsichtbaren Wand aufgehalten. Auf der einen Seite: Die Psychiatrie als Hort der sogenannten Irren, die trotz der inneren Vielstimmigkeit allein bleiben. Auf der anderen Seite der Schwelle: Die Freundin, Stellvertreterin (stehende Vertreterin) für all jene Menschen, die der Frau im Innenraum des Wahnsinns nahe sein wollen, es aber aus mannigfaltigen Gründen nicht können. Diesseits und jenseits der Schwelle: Das Unbehagen über die abhanden gekommene Sphäre, die zuvor eine geteilte war.

Ob es die vielen kleinen Banalitäten oder die Angst vor den Abgründen des Menschlichen sind, wird irrelevant, denn was bleibt ist die Einsamkeit und Entfernung der ehemals befreundeten Menschen. Auf beiden Seiten der psychiatrischen Wand tickt die Uhr weiter, die Zeit ist aber in einem Davor stehengeblieben, in einem Gestern, das es nicht mehr gibt. Mit jedem neuen psychoaffektiven oder ähnlich kräfteraubenden Schub, wird die Angst vor den als böse gefühlten Mächten im eigenen Kopf größer, und mit ihr der Abstand von den „normalen“ Freundinnen und Freunden die Draußen verblieben, wo sie ihr Leben in einer Selbstbestimmtheit weiterleben können, die von Innen (der Psychiatrie aus) aus betrachtet immer unvorstellbarer und in der Differenz übersteigert wird: Der Spalt klafft immer weiter auf. Aber auch die als normal Empfundenen erleben Verlust und Schuld – abgeschnittene Kommunikationsfäden hängen wirr im Raum – mit Blumen in der Hand steht die Freundin regungslos da und wartet. Ob sie weiß worauf?

Gebäude, in denen Menschen mit psychischen Störungen oder Problematiken behandelt oder verwahrt werden, können eine dunkle Bedrückung ausstrahlen, fast so, als wären sie verstrahlt und man müsse einen Sicherheitsabstand einhalten, wolle man selbst nicht kontaminiert werden. Das bisschen innere Stabilität und Seelenfrieden sich bewahren. Die Distanz zu denen da drinnen als größer erleben können, als wir in unseren unbehaglichen Momenten, wenn wir zu nah vor dem Gebäude stehen, befürchten. Kann uns das auch passieren? Diese doppelte Einsamkeit – alleine mit dem Stimmengewirr im eigenen Kopf, der Kopf alleine in den weiß gestrichenen Zimmern mit den anderen alleingelassenen Seelen – wie kann ein Mensch das ertragen? Zugleich aber auch das Überschätzen der Wahlfreiheit: Warum ist sie nicht bei uns heraußen geblieben? Stehen wir direkt davor, erkennen wir, dass die Wände der Psychiatrie dünner sind, als wir dachten, wie schon der Weg dorthin – nur 22 Minuten mit dem 48A von der Bellaria – kürzer ist, als angenommen.